Risky Play – Das riskante Spielen

Beitrag von Dr. Andrea Sturm, Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin, Kinderphysiotherapeutin in Hohenems.

Die zunehmende Sorge um die Sicherheit von Kindern wurde als gemeinsames Merkmal moderner Gesellschaften im 20. Jahrhundert beschrieben. Gerade in industrialisierten Gesellschaften gibt es eine zunehmende Tendenz, Risiken von Kindesbeinen an wo immer möglich zu vermeiden. Einem Kind zu ermöglichen, spielerisch mit Risiken umgehen zu lernen, ist jedoch einer der besten Wege der Verletzungsprophylaxe! Das Eingehen von Risiken geschieht zum Beispiel ganz natürlich, wenn Kinder draußen in der Natur spielen, da sie herausfordernde und riskante Formen des körperlichen Spiels suchen und sich darauf einlassen. Dies geschieht, obwohl, und bis zu einem gewissen Grad auch gerade deshalb, weil diese Art des Spiels mit Ängsten und Nervenkitzel verbunden ist und die reale Möglichkeit mit sich bringt, verletzt zu werden. Die mit Riskantem Spiel verbundenen Gefühle könnten auch als „beängstigend-lustig“ beschrieben werden und werden von den spielenden Kindern als ein “Kitzeln im Bauch” beschrieben. 

WAS IST RISKY PLAY?

 

Riskantes Spielen ist eine pädagogische Haltung mit der Überzeugung, dass Kinder in der Lage und kompetent sind, ihre Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie ihren eigenen Körper einsetzen wollen, wenn sie draußen spielen. Riskantes Spielen von Kindern im Alter zwischen 2 und 5 Jahren wurde ursprünglich von Ellen Sandseter, einer Pädagogin und Forscherin aus Norwegen, untersucht. Hier kannst du ein informatives Video zum Thema anschauen.

 Ursprünglich umfasste es die folgenden sechs Kategorien: 

1. Große Höhen

wie z.B. das Klettern auf Felsen, Bäume oder Klettertürme

2. Hohe Geschwindigkeit

wie z.B. wildes Schaukeln, Bob- oder Schlittenfahren, schnelles Rennen oder Radfahren

3. Gefährliche Werkzeuge

wie z.B. Messer, Sägen, Hammer und Nagel

4. Gefährliche Elemente

wie z.B. Spielen nahe an Gewässern oder Feuer

5. Wildes Spiel

wie z.B. Kampf- und Tobespiele

6. Verschwinden/Verloren gehen

wenn Kinder sich absichtlich von ihren Eltern außer Sichtweite entfernen

Im Jahr 2017 untersuchte Rasmus Kleppe, ein Doktorand aus Sandseter, das Riskante Spielen von Kleinkindern im Alter von 1 bis 3 Jahren und identifizierte zwei weitere Kategorien: 

7. Spiele mit Aufprall

wenn z.B. ein Kleinkind sich mit Wucht in die Arme seiner Bezugsperson stürzt

8. Nachempfundenes Risiko

bei dem von einem Kleinkind das Riskante Spielen von anderen Kindern beobachtet wird

Wenn Kinder Entscheidungen treffen dürfen, bei denen Verletzungsgefahr besteht, während sie einen fürsorglichen Erwachsenen in ihrer Nähe haben, der mit ihnen mögliche Konsequenzen ihrer Entscheidungen bespricht, ermöglicht das ihnen, ihr Verständnis dafür zu erweitern, wie die Welt funktioniert. So können sie zu autonomen und kompetenten Entscheidungsträgern werden. 

SPIELEN GESTERN UND HEUTE

Wenn man Erwachsene nach ihrer Kindheit befragt, werden die meisten wahrscheinlich das Spielen im Freien beschreiben, etwa in Wäldern, in Gärten, auf Straßen und auf Spielplätzen.

Heutzutage haben die Möglichkeiten für Kinder im Freien zu spielen, abgenommen. Auch stehen Kindern heute technologisch fortschrittliche Spielzeuge zur Verfügung, die hauptsächlich drinnen gespielt werden, während frühere Generationen von Kindern noch mehr draußen spielten. Die Annahme, dass das Spielen in Innenräumen sicherer ist als das Spielen im Freien, dürfte jedoch angesichts der potenziellen Schäden des Internets (wie z.B. Gewaltdarstellungen, Cyber-Mobbing, Pornografie), reduzierter körperlicher Aktivität und unnötigem Zwischenmahlzeiten falsch sein. Neben manchmal überfürsorglicher Erziehung hat sich auch die Vorstellung von der Kindheit verändert. Das Verständnis eines Kindes als belastbar und leistungsfähig hat sich hin zu dem Bild eines verletzlichen Kindes verlagert, das kontinuierlichen Schutz benötigt.

 Ein übertriebener Fokus auf die Sicherheit von Kindern kann insofern problematisch sein, als er die Fähigkeiten für notwendige Herausforderungen und vielfältige Anregungen einschränkt, die Kinder für eine normale körperliche und geistige Entwicklung benötigen. Die WHO empfiehlt, dass Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahren mindestens 180 Minuten täglich mit verschiedenen körperlichen Aktivitäten in jeglicher Intensität verbringen sollten. Kinder und Jugendliche im Alter von 5 bis 17 Jahren sollten über die Woche hinweg durchschnittlich mindestens 60 Minuten pro Tag mäßiger bis starker körperlicher Aktivität nachgehen. Dies gilt auch für Kinder mit Behinderungen. Der Mangel an körperlicher Aktivität von Kindern und Jugendlichen ist ein weltweites Problem. Schätzungsweise 80 % der Kinder im Alter von 5 bis 17 Jahren erfüllen die WHO-Empfehlung von 60 Minuten körperlicher Aktivität pro Tag nicht. 

Zu wenig Zeit im Freien kann sich negativ auf die soziale, kognitive und körperliche Entwicklung auswirken, die Verletzungsanfälligkeit erhöhen und zu chronischen Erkrankungen führen, die mit einem geringen Aktivitätsniveau einhergehen, wie z.B. Übergewicht, Diabetes oder Depressionen.

RISIKO VERSUS GEFAHR

Viele Gesellschaften sind risikoaverser geworden, zum Teil auch aufgrund von Ängsten hinsichtlich rechtlicher Haftung. Dadurch wird die Wahrnehmung von Risiken für Kinder negativ beeinflusst und durch Erwachsene als etwas dargestellt, das es generell zu vermeiden gilt. Die negative Interpretation von Risiko führt dazu, dass Risiko und Gefahr synonym betrachtet werden. Aber ein Risiko ist nicht unbedingt nur negativ. Es kann auch durch Situationen definiert werden, in denen wir zwischen alternativen Handlungsoptionen wählen müssen, ohne das Ergebnis zu kennen.

Unter RISIKO im Zusammenhang mit riskantem Spielen versteht man eine Situation, in der ein Kind eine Herausforderung erkennen und bewerten kann, und über die Vorgehensweise entscheidet, wie es auf diese Herausforderung reagieren soll. Dabei lernen Kinder spielerisch, Risikosituationen einzuschätzen und zu meistern; sie lernen, mit Misserfolgen oder negativen Folgen ihrer Entscheidungen umzugehen und sie bauen Resilienz und Selbstvertrauen auf, indem sie Bewältigungsstrategien für den Umgang mit Risikosituationen erwerben.

Wichtig bei diesem Prozess ist es, den Kindern selbst eine Entscheidung zu ermöglichen. Hat man als Erwachsener Bedenken hinsichtlich der Umsetzbarkeit der Entscheidung, kann man zum Beispiel das Kind durch gezieltes Hinterfragen zu einer Reflexion dieser anregen, anstatt die Aktivität zu verbieten oder abzulehnen, oder z.B. dem Kind seine Hilfe bei der Umsetzung der Pläne anbieten.

Durch das riskante Spielen entsteht auf natürliche Weise ein Verhalten, das schrittweise angstreduzierend wirkt. Dabei lernt das Kind auch, die körperlichen Komponenten, Aspekte von Angst wie z.B. Herzklopfen, zu meistern und auszuhalten. Werden diese evolutionär sinnvollen Ängste der Kindheit nicht abgebaut und bewältigt, so können diese bis ins Erwachsenenalter fortdauern und zur späteren Entwicklung von Angststörungen beitragen. Lernen Kinder verschiedene Risiken nicht realistisch einzuschätzen, und damit verbundenen Ängsten altersadäquat zu begegnen, laufen sie auch möglicherweise später als Teenager Gefahr, beim Austesten ihrer Grenzen die Verantwortung für ihr eigenes Leben und für das von anderen auszublenden. 

Das wird zum Beispiel dann deutlich, wenn Jugendliche als Mutprobe auf Züge klettern und dabei in Oberleitungen geraten, oder wenn sie sich ihrer körperlichen Grenzen oder den Gefahren der Umwelt nicht bewusst sind, wenn sie mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Piste oder auch motorisiert unterwegs sind. Auch wird vermutet, dass es zu einem erhöhten Neurotizismus oder einer erhöhten Psychopathologie in der Gesellschaft beiträgt, wenn Kinder daran gehindert werden, an altersgerechten riskanten Spielen teilzunehmen. Das Beherrschen riskanter Situationen kann Kindern daher helfen, sich beim Übergang ins Erwachsenenalter sicher und selbstbewusst in der Welt um sie herum zurechtzufinden.

Unter einer Gefährdung hingegen versteht man eine GEFAHR in der Umwelt, durch die sich ein Kind schwer verletzen und welche außerhalb der Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes liegt. Abhängig vom Alter eines Kindes werden jene Risiken, die im Zusammenhang mit der Entwicklung und den körperlichen Fähigkeiten der spielenden Kinder zu Gefahren werden, aus der Spielumgebung entfernt (wie zum Beispiel ein herumliegendes Messer in der Gegenwart eines Dreijährigen). 

Manchmal kann aber eine Gefahr nicht beseitigt werden, sondern sie zwingt Familien dazu, ihren Lebensstil anzupassen. Beispielsweise können gesundheitliche Risiken durch Luftverschmutzung die uneingeschränkte Spielfähigkeit eines Kindes im Freien beeinträchtigen. Eine unsichere Umgebung, in der ein Kind frei draußen spielen kann, kann auch durch hohes Verkehrsaufkommen oder sogar durch real existierende Gewalt in der Umgebung verursacht werden. Erwachsene als Betreuer sind daher beim Riskanten Spielen wichtig, da sie den Kindern als Trainer und Mentoren fungieren können, um ihnen Entscheidungsprozesse zu erleichtern.

Ich würde mich sehr freuen, wenn diese kurze Einführung in das Riskante Spielen vielleicht als Gedankenanstoß zum Hinterfragen oder auch als Bestätigung eurer Einstellung dient, und bei der Reflexion dessen hilft, was als sicher und unsicher im Rahmen der eigenen Komfortzone verstanden wird, sowie dem Bestreben, das eigene Kind bestmöglich zu beschützen.

Über die Autorin:

Dr. Andrea Sturm

Andrea Sturm ist Bildungs- und Erziehungswissenschaftlerin, sowie Kinderphysiotherapeutin mit rund 20 Jahren beruflicher Erfahrung. Besonders die Entfaltung des kindlichen Potenzials, sodass aus Kindern kompetente, gesunde und reflektierte Erwachsene werden können, sind mir seit jeher ein großes Anliegen, und noch mehr, nachdem ich selbst Mutter geworden bin. Aufgrund meiner verschiedenen beruflichen Hintergründe betrachte ich Kinder in ihrer individuellen Entwicklung aus verschiedenen Blickwinkeln, einschließlich physischer, psychologischer, sozialer und kultureller Perspektiven.

Über Physiopedia unterrichte ich Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen aus aller Welt über die Zusammenhänge von körperlicher Aktivität, psychischer Gesundheit und Kindergesundheit.

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